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Eines der fortschrittlichsten Sozialgesetze der Welt
Von den einen gefeiert und den anderen kritisiert: Das Angestelltengesetz feiert 2021 seinen 100. Geburtstag.
Der Gesetzgeber zog Mitte des 19. Jahrhunderts eine bis heute bestehende Trennlinie zwischen unselbstständig Erwerbstätigen, nämlich zwischen Arbeiter:innen und Angestellten. Mit der Gewerbeordnung (1859) entstand die Gruppe des „Gewerblichen Hilfspersonals“ – etwa: Gehilfen, Gesellen, Kutscher, Fabrikarbeiter:innen, Lehrlinge und jene, die in Gewerben arbeiteten. Vier Jahre später erschienen im Allgemeinen Handelsgesetzbuch (1863) erstmals Bestimmungen für Angestellte, die damals noch Handlungsgehilfen oder Privatbeamte hießen.
Privilegien für Angestellte
Die beiden Gesetze waren das Resultat der Industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals stieg nicht nur die Anzahl der Fabrikarbeiter:innen, sondern auch die der Angestellten an. Während Fabrikarbeiter:innen leicht ersetzbar waren, brauchten Spezialist:innen wie Buchhalter:innen, Zeichner:innen oder Werkführer oft eine lange Anlernzeit. Deshalb achteten Arbeitgeber:innen darauf, sie möglichst lange im Betrieb zu halten. Und zwar mit Privilegien, von denen Arbeiter:innen damals nur träumen konnten: bezahlter Urlaub, Kündigungsfristen oder Gehaltsfortzahlung im Krankenstand.
Meister der sozialpolitischen Gesetzeswerke
Auch auf gewerkschaftlicher Ebene organisierten sich Arbeiter:innen und Angestellte in unterschiedlichen Organisationen. So wurde etwa 1892 der Verein für kaufmännische Angestellte gegründet, der ab 1895 unter der Leitung von Karl Pick, dem „Meisters der sozialpolitischen Gesetzeswerke“ stand. Er erreichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das „Stehkragenproletariat“ (Verkäufer:innen) die Sonntagsruhe und die Vorverlegung der Sperrstunde im Handel. Seine großen Meisterstücke waren aber auch die Durchsetzung des Pensionsversicherungsgesetzes für die Privatangestellten (1906) und des Handlungsgehilfengesetzes (1910).
(Link-Tipp: Gleiche Rechte für ArbeiterInnen und Angestellte!)
Pensionsversicherungsgesetz für Angestellte
Allerdings gab es Schönheitsfehler. Das Pensionsversicherungsgesetz galt nur für einen geringen Teil der Angestellten und die strengen Anspruchsregelungen schlossen vor allem Frauen aus. Das Handlungsgehilfengesetz hingegen brachte u. a. bezahlten Urlaub von zehn Tagen bis zu drei Wochen und die Verlängerung der Kündigungsfristen. Für Arbeiter:innen gab es diesbezüglich keine gesetzlichen Regelungen.
Kündigungsverbot während des Ersten Weltkrieges
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges standen viele Angestellte vor der Wahl: Kündigung oder Gehaltsverzicht, und für eingezogene Soldaten aus dem Angestelltenbereich gab es überhaupt keine arbeitsrechtlichen Regelungen. Es brauchte gehörigen Druck der Gewerkschaften, bis Kaiser Franz Joseph im Februar 1916 eine Verordnung unterzeichnete, die ein zeitlich begrenztes beidseitiges Kündigungsverbot enthielt. Somit war zurückkehrenden Soldaten ein Rückkehrrecht auf ihren alten Arbeitsplatz garantiert bzw. eine Entgeltfortzahlung von sechs Wochen. Nichts davon galt für die aus dem Krieg zurückkehrenden Arbeiter.
Lebhafte Verhandlungen
In der Ersten Republik setzte sich der damalige Sozialminister und Textilgewerkschafter Ferdinand Hanusch für die Umsetzung langjähriger Gewerkschaftsforderungen ein: Arbeits- und Sozialgesetze, die für alle Arbeitnehmer:innen gelten. Wie etwa das Achtstundentagsgesetz, das Kollektivvertragsgesetz und das Betriebsrätegesetz. Auch Karl Pick, dann schon als Nationalratsabgeordneter, kämpfte weiterhin für die Angestellten und erreichte abermals ein Sondergesetz. Es brauchte dazu einen Unterausschuss, Enqueten, Beschlüsse, Kundgebungen und vor allem Verhandlungen, bei denen es „sehr lebhaft, manchmal sogar zu lebhaft“ zuging, bis schließlich der Nationalrat am 11. Mai 1921 das Angestelltengesetz verabschiedete.
Glückliche Angestellte
Das Angestelltengesetz beinhaltete u. a. Abfertigung, die sechswöchige Entgeltfortzahlung für weibliche Angestellte nach der Entbindung, Kündigungsverbot von Schwangeren sowie bezahlten Urlaubsanspruch bereits nach sechs Monaten Dienstzeit und von bis zu fünf Wochen nach 25 Jahren Dienstzeit. Arbeiter:innen hatten damals einen Urlaubsanspruch von einer Woche. Während das Angestelltengesetz einerseits als Sondergesetz, das nur sechs Prozent der unselbstständig Erwerbstätigen galt, kritisiert wurde, feierten es andere als eines der „fortschrittlichsten Sozialgesetze der Welt“ und strichen dessen Vorreiterrolle hervor.
Von Marliese Mendel
(Autorin, Journalistin und Historikerin)
Buchtipp aus dem ÖGB-Verlag
Angestelltengesetz
Günther Löschnigg, Nora Melzer (Hrsg.)
ÖGB-Verlag / 2021 / 11. Auflage
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ISBN: 978-3-99046-528-8
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